Sola fide oder Der kreditäre Irrtum des Martin Luther

Anlässlich des beginnenden einjährigen Gedenkjahres zur Vorbereitung des 500. Reformationsjubiläums möchte ich heute einen Abschnitt aus dem Essay Die monetäre Krise des Kapitalismus wiedergeben, den ich bereits zu Beginn dieses Jahres veröffentlicht hatte. Am 31.10.1517 hatte Martin Luther seine 95 Thesen öffentlich gemacht und dabei insbesondere den Ablasshandel als Finanzinnovation des Mittelalters zum Erhalt und Ausbau der Macht ins Zentrum seiner Kritik gestellt. Man könne sich nicht durch die Tat (Kauf des Ablassbriefes) von seinen Sünden freikaufen. Allein der Glaube (sola fide) sei es und nicht das Werk. Aber auch dieser revolutionäre Gegenentwurf reicht allein nicht aus für die Erlösung und das Seelenheil, aber das sola fide ist die notwendige Voraussetzung hierfür. Allerdings bedarf es zur Vollendung dann doch noch des Werkes. Hierum geht es in diesem Kapitel: Um den Irrtum des Martin Luther, der sich in seiner berechtigten Papstkritik zu einseitig auf den Ablasshandel konzentrierte und somit das positive Werk aus dem Auge verlor. Die neue Einheit von Glaube und Werk ist zugleich ein Anknüpfungspunkt für die ökumenische Bewegung und somit für die partielle Überwindung des 2. großen Schismas.

2.3. SCHULD UND SCHULDEN AUS RELIGIÖSER PERSPEKTIVE

Schuld und Sünde sind zwei zentrale Begriffe des Alten Testaments. Durch den Sündenfall wird der erste Mensch (Adam) samt Eva aus dem Paradiese vertrieben und fortan in der Schuld geboren. Durch den Sündenfall kommt also die Schuld in diese Welt. Was ist dies nun aber für eine Schuld? Und ist zugleich jeder, der in der Schuld geboren wird, auch zugleich in der Sünde geboren?

Wir kennen den Unterschied zwischen einer äußeren Schuld und einer inneren Schuld. Eine äußere Schuld ist ein materielles Schuldverhältnis zu einer anderen Person oder aber dem Staat (Steuern), das auch durch Dritte getilgt werden kann, während eine innere Schuld (mea culpa) sittlich-moralischer Natur ist, die wir als Sünde bezeichnen. Eine Sünde kann nicht durch Dritte getilgt werden, auch nicht durch den Erwerb von Ablassbriefen, sondern lediglich durch innere Umkehr. Hier war der fundamentale Bruch Luthers mit dem herrschenden System des Mittelalters und ist zugleich ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung der Satisfaktionslehre (Der Tod Jesu als Sühneopfer zur Tilgung unserer Schulden). Dazu später mehr.

Betrachten wir zuerst die äußere Schuld im Sinne von in der Schuld geboren werden: Wir verschulden uns alle im ersten Viertel unseres Lebens bei unseren Eltern/der Gesellschaft, tragen dann unsere Schulden über die Hälfte unseres Lebens ab und bauen dabei zugleich ein Guthaben auf, dass wir im letzten Viertel wieder abbauen. Dieses anzustrebende Gleichgewicht aus Verschuldung und Entschuldung wurde und wird aber immer wieder missachtet; sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Schulden sind nur dann durchsetzbar, wenn es eine funktionsfähige Rechtsordnung gibt. Unser Recht basiert auf dem römischen Recht. Einer der zentralen Grundsätze ist das Eigentum, das insbesondere durch den Grundsatz pacta sunt servanda geschützt wurde und bis heute gilt. Denn das, was gilt, dass ist gültig (engl. guilty). Geld (von gelten, also das, was vereinbart wurde) wiederum ist nichts anderes als umlauffähige Schulden; also das, was gilt.

Wann wird aber aus Schuld Sünde? Dann, wenn der Schuldner – warum auch immer – seine Schulden nicht mehr bedienen kann. Dann kippt die Urschuld und wird zur Sünde. Nicht rückzahlbare Schulden müssen erlassen werden. Alles andere führt in die Sklaverei. Das Alte Testament kennt hierzu den Exodus: Moses führte das Volk der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei ins gelobte Land. Diese Geschichte ist zentraler Ausgangspunkt des Judentums und somit letztlich auch des Christentums und des Islam. Der Islam anerkennt als einzige der drei monotheistischen Religionen bis heute das biblische Zinsverbot.

Das Alte Testament betont zugleich den strafenden Gott: „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde“ (Exodus 21, 23–25).

Und jetzt geschieht etwas Ungeheuerliches: Mit Jesus von Nazaret kommt ein radikal neues Denken in diese alte Welt, das die Wurzeln der herrschenden Strukturen in ihren Grundfesten zu erschüttern droht. Jesus zentrale Botschaft lautet nicht mehr Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern es geht um Vergebung. Das herrschende Recht wird plötzlich mit einem normativen Gegenentwurf konfrontiert: der Gerechtigkeit.

Dieser fundamentale Wechsel zieht sich wie ein roter Leitfaden durch das Neue Testament und findet im Vaterunser – dem zentralen Gebet des Christentums – seinen radikalen Niederschlag. Jesus hatte es seinen Jüngern gegenüber klar und konzis formuliert. Vier Aspekte sind hierbei auch aus ökonomischer Perspektive von zentraler Bedeutung:

1. Vater unser im Himmel: Die Betonung liegt hier auf unser. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund, nicht das Individuum. Hier betet nicht das narzisstische Ich eines Homo Oeconomicus, sondern der Mensch als soziales Wesen.

2. Unser tägliches Brot gib uns heute: Auch hier ist wieder zuerst die Gemeinschaft angesprochen. Zugleich geht es um das Heute. Es geht nicht um das Morgen oder das Übermorgen. Denn insbesondere die Anhäufung von Nahrungsmitteln bedeutete zur damaligen Zeit, dass andere Menschen unter Umständen Hunger leiden mussten. Nicht der einzelne Mensch soll satt werden, sondern die Gemeinschaft aller. Darüber hinaus geht es um das Lebensnotwendige, das Brot. Von dieser Bescheidenheit sind wir gerade heute weit entfernt und schaffen durch materiellen Überfluss zahlreiche neue/alte Probleme. Dostojewski brachte es in seinem Debütroman Arme Leute auf den Punkt: „Das Gestöhn der Hungrigen läßt die Satten wohl nicht schlafen?“ Heute sind es eher Völlerei, röhrende Ferraris, individualisierte Hubschrauberlandeplätze sowie Depressionen, die die Satten nicht schlafen lassen.

3. Und vergib uns unsere Schuld,…: Nicht mir, nicht dir, sondern wieder einmal der Gemeinschaft aller. Die Vergebung ist aber zugleich mit einer Aufforderung verbunden – dem vierten ganz zentralen Aspekt des Neuen Testaments – , der diesen Satz erst komplettiert:

4. …wie auch wir vergeben unsern Schuldigern: Nur wenn wir dem anderen seine nicht tragbaren Schulden erlassen, werden auch uns unsere Schulden vergeben. Und wenn wir dies unterlassen, dann machen wir uns selber moralisch schuldig. Aus einem ursprünglich legalen Schuldverhältnis wird dann ein illegitimes/amoralisches. Es ist die Metamorphose einer legalen äußeren materiellen Schuld in ein illegitimes inneres Schuldverhältnis, bei dem der Gläubiger selber zum Schuldner mutiert. Wir können uns also nur retten, indem wir den anderen retten.

Die Vergebung der Schulden wäre somit aber plötzlich nicht mehr ein hoheitlicher Gnadenakt der herrschenden Könige  – z. B. die Erlassjahre beim Amtsantritt –  , sondern eine tägliche Übung aus einer sittlich-religiösen Verpflichtung heraus. Dieser Affront wird insbesondere durch zwei weitere zentrale Aussagen Jesu verstärkt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Hierbei ist insbesondere zu beachten, dass Reichtum und Reichtumsmessung ein relatives Konzept ist.

Diese Aufforderung zu Entsagung und Vergebung war eine Bedrohung für das bestehende Rechtssystem, das insbesondere das Eigentum zu schützen hatte (wer hier an TTIP denkt, liegt richtig). Und dies durfte nicht geschehen. Und damit es erst keiner wieder versucht, musste man ein Exempel statuieren. Die Vergebung der Schulden ist die eigentliche Botschaft des Kreuzes. Für diese Botschaft wurde Jesus gekreuzigt. Er war den Mächtigen dieser Welt zu nahe gekommen.

1000 Jahre später geschieht wieder etwas Ungeheuerliches: Die Umkehrung und Umdeutung der zentralen Botschaft Jesu durch Anselm von Canterbury. In seinem theologischen Werk Cur deus homo kehrt er die Botschaft Jesu um und vernebelt mit seiner Satisfaktionslehre die wahre Ursache für den Kreuzestod Jesu:

Nichts ist in der Ordnung der Welt weniger zu ertragen, als daß das Geschöpf dem Schöpfer die schuldige Ehre nimmt und nicht abzahlt, was es nimmt.

Im Widerspruch zum Vaterunser gilt nun wieder der Grundsatz pacta sunt servanda bzw. Schulden müssen zurückgezahlt werden. Es ist zugleich ein Rückfall in die Vergeltungszeit des Alten Testaments (Auge um Auge, Zahn um Zahn). Die Barmherzigkeit wird als moralisches Phänomen der individuellen Ebene entrissen und auf die institutionelle Herrschaftsebene zurück verlagert. Somit wurde zugleich die Basis für den mittelalterlichen Ablasshandel bereitet, der später zum zweiten großen Schisma mit der Reformationsbewegung unter Luther führte.

Durch die Abwendung von den zentralen Inhalten des Vaterunser kam es in Folge zu einer verstärkten Kooperation mit den Mächtigen, mit all ihren inneren Widersprüchen, die dann von Jan Hus offen angeprangert wurden. Auch er war den Mächtigen im Wege und wurde 1415 als Ketzer verbrannt.

100 Jahre danach brachte Luther mit seiner radikalen Rückbesinnung auf Jesus (solus Christus) wieder die zentrale Botschaft des Neuen Testaments ins Zentrum christlichen Denkens und führte somit letztlich den Aufstand der Anständigen von Jan Hus fort. Allein durch den Glauben (sola fide) werde man frei von der Sünde, nicht durch seine Werke (Ablasshandel). Im sola scriptura (nur die Bibel ist maßgebend, nicht die kirchlichen Schriften/Erlasse) legt Luther die Erkenntnisbasis für die Erlösung von dem Bösen ohne jedoch den letzten Verständnisschritt zu schaffen. Daher gibt es bei Luther als Hilfskonstrukt das sola gratia; der Mensch kann das Heil also nur durch die Gnade Gottes erlangen. Er erkennt somit letztlich nicht, was er täglich betete: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wer als Gläubiger daran glaubt, dass unbezahlbare Schulden zurück gezahlt werden müssen, der mutiert im moralischen Sinne vom Gläubiger zum Schuldner und lebt fortan in Sünde. Nicht durch die Gnade Gottes wird uns die Erlösung zuteil, sondern durch das eigene Handeln, dass im Vaterunser als sittlich-moralische Norm vorgegeben ist. Wer sich selber aus der Sünde retten will, der muss zuerst den anderen retten. Dies ist die gute Nachricht bzw. die frohe Botschaft des Evangelium.

Wie bedeutsam ein solcher Schuldenerlass auch aus systemischer Sicht ist und ein Insistieren auf dem Grundsatz pacta sunt servanda selbstschädigend sein kann, wurde auch den Päpsten des Mittelalters nicht klar… – oder eben doch. Statt eines materiellen Schuldenerlasses institutionalisierte die Kirche dann den moralischen Schuldenerlass (nicht jeder war in der Lage, einen Ablassbrief zu erwerben). Es sind die berühmten Jubeljahre, die zum ersten Mal im Jahre 1300 wirksam wurden, obwohl sie bereits im Alten Testament alle 50 Jahre gefordert wurden. Allerdings forderte das Alte Testament den materiellen Schuldenerlass, während das Jubeljahr einen lediglich von den Sünden befreien sollte. Dies ist aber nach Luther nur sola fide möglich. Der materielle Schuldenerlass bildet somit die zentrale Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament.

In dieser Zeit wird 1516 auch das berühmte Werk Utopia von Thomas Morus veröffentlicht. Morus war als Katholik Gegenspieler der Reformationsbewegung und somit insbesondere von Luther. In einem philosophischen Dialog entwirft er einen sozialutopischen Gegenentwurf zum England der damaligen Zeit; und zwar ohne Geld und ohne Eigentum. Sein sozialistisch-egalitärer Affront war zugleich der Beginn des englischen Humanismus. Und damit sind wir wieder beim Thema Geld und Schulden angekommen.


Hier gibt es den gesamten Beitrag als PDF: Die monetäre Krise des Kapitalismus (14 Seiten, 269 KB).

Zur Vertiefung diese zwei Essays:
Friedrich Wilhelm Graf: Sünde, Schuld(en) und Recht
Christoph David Piorkowski: Gnade gegen Geld

arte-tv: Der Luther-Code
Kulturradio rbb: Die Sparschweinerei: Bargeld zwischen Mythos und Moderne

Über Michael Stöcker

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